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Diesmal machte er sich die Mühe, es laut zu übersetzen und sogar mehrmals zu wiederholen, wie ein Schüler, der etwas auswendig lernt:
»Personenbeschreibung von Pietr, dem Letten: Vermutlich 32 Jahre alt, 1,69 groß, gerades Nasenbein, Basis waagerecht, Ansatz relativ breit, keine Besonderheiten an der Nasenscheidewand, ungewöhnlich geformter Ohrrand, große Ohrläppchen, Höhe der Ohrmuschel an der Innenseite normal, Gesamtgröße kleiner als normal, hervorstehender Höcker der Ohrmuschel, Krümmung normal, unten eng anliegend, Besonderheit: starke Falten, Zähne am Oberkiefer leicht vorstehend, hohlwangiges Gesicht, hellblonde dünne Augenbrauen, dicke, seitlich abfallende Unterlippe, langer Hals, Iris mittelgelb, am Rand ins Grünlichgraue übergehend, hellblondes Haar.«
Dieses mit Worten gezeichnete Porträt von Pietr, dem Letten, war für den Kommissar ebenso beredt wie ein Foto. In groben Zügen vermittelte es als ersten Eindruck: Der Mann war klein, mager, relativ jung, hatte sehr helles Haar, dünne blonde Brauen, grünliche Augen und einen langen Hals.
Außerdem kannte Maigret die Ohren bis ins geringste Detail, was ihm erlaubte, Pietr, den Letten, selbst wenn er geschminkt war, in einer größeren Menschenmenge mit Sicherheit ausfindig zu machen.
Er nahm seine Jacke vom Haken, zog sie an, hüllte sich in seinen dicken schwarzen Mantel und setzte die Melone auf.
Er warf einen letzten Blick auf den Ofen, der jeden Augenblick vor Hitze zu platzen schien.
Am Ende eines langen Flurs, auf dem Treppenabsatz, der als Vorzimmer diente, mahnte er Jean:
»Vergiß mein Feuer nicht, hörst du!«
Auf der Treppe wurde er vom Wind überrascht, der sich hier verfangen hatte, und er mußte sich in eine schützende Ecke stellen, um seine Pfeife anzünden zu können.
Trotz der monumentalen Glasfenster fegten Böen über die Bahnsteige des Nordbahnhofs. Mehrere Scheiben waren aus dem Dach herausgebrochen und zwischen den Gleisen zersplittert. Die Stromversorgung funktionierte nicht recht. Die Leute vergruben sich in ihre Mäntel.
Vor einem Schalter lasen Reisende die wenig beruhigende Nachricht:
»Sturm auf dem Ärmelkanal.«
Und eine Frau, deren Sohn nach Folkestone fuhr, zeigte ein bestürztes Gesicht, gerötete Augen. Bis zur letzten Sekunde erteilte sie ihm Ratschläge. Verlegen mußte er versprechen, keinen Augenblick an Deck des Schiffes zu bleiben.
Maigret stand am Gleis 11, wo die Menge auf den Nordexpreß wartete. Alle großen Hotels und natürlich auch das Reisebüro Cook waren vertreten.
Er rührte sich nicht. Andere wurden nervös. Eine junge Frau, die in einen Nerz gemummt war, im Gegensatz dazu aber hauchdünne Seidenstrümpfe trug, ging auf und ab und hämmerte dabei mit ihren Absätzen auf das Pflaster.
Er blieb ruhig stehen, eine imposante Gestalt mit eindrucksvollen Schultern, die einen breiten Schatten warfen. Er wurde angerempelt, schwankte jedoch so wenig wie eine Mauer.
In der Ferne tauchten die gelben Lichter des Zuges auf. Dann hörte man das Donnern der Räder, die Rufe der Gepäckträger, die eiligen Schritte der Reisenden, die dem Ausgang zustrebten.
Etwa zweihundert Menschen ließ Maigret vorüberziehen, ehe sein Blick in dem Strom auf einen Mann fiel, dessen grüner, großkarierter Reisemantel in Schnitt und Farbe eindeutig nordisch geprägt war.
Der Herr hatte es nicht eilig. Drei Gepäckträger folgten ihm. Der Hausdiener eines großen Hotels an den Champs-Elysées bahnte ihm ehrerbietig den Weg.
»Vermutlich 32 Jahre alt, 1,69 groß … Nasenrücken …«
Maigret bewegte sich nicht. Er betrachtete das Ohr. Das genügte ihm.
Der grüngekleidete Mann ging nah an ihm vorbei. Einer der Gepäckträger stieß den Kommissar mit einem seiner Koffer an.
Im selben Augenblick rannte ein Bahnbeamter los und rief seinem Kollegen schnell etwas zu, der am Ende des Bahnsteigs in der Nähe der Sperre stand.
Die Sperre wurde geschlossen. Protestrufe ertönten.
Der Herr im Reisemantel befand sich bereits am Ausgang.
Der Kommissar rauchte in kleinen, hastigen Zügen. Er trat auf den Beamten zu, der den Bahnsteig abgesperrt hatte.
»Polizei! Was soll das?«
»Ein Verbrechen … Man hat es gerade entdeckt.«
»Wagen 5?«
»Ich glaube.«
Auf dem Bahnhof ging es zu wie immer. Nur an Gleis 11 bot sich ein ungewöhnlicher Anblick. Etwa fünfzig Reisende wurden am Verlassen des Bahnsteigs gehindert. Sie begannen ungeduldig zu werden.
»Lassen Sie sie durch«, sagte Maigret.
»Aber …«
»Lassen Sie sie durch!«
Er schaute zu, wie sich der letzte Teil der Menge verlief.
Der Lautsprecher kündigte die Abfahrt eines Vorortzuges an. Irgendwo rannte jemand. Vor einem der Wagen des Nordexpreß warteten ein paar Leute: drei Männer in der Uniform der Eisenbahngesellschaft.
Als erster kam, wichtigtuerisch, aber nervös, der Bahnhofsvorsteher angelaufen. Dann rollte eine Bahre in die Halle, drang durch die Ansammlungen der Wartenden, die ihr, unangenehm berührt, mit den Augen folgten. Vor allem die Abreisenden wirkten beunruhigt.
Die Pfeife im Mund, ging Maigret mit schweren Schritten den Zug entlang. Wagen 1, Wagen 2 … Er erreichte den fünften Wagen. Dort standen ein paar Leute vor einer der Türen. Die Bahre blieb stehen. Der Bahnhofsvorsteher hörte den drei Männern zu, die alle gleichzeitig sprachen.
»Polizei! Wo ist er?«
Sie sahen ihn sichtlich erleichtert an. Er schob seine ruhige, massige Gestalt in die Mitte des aufgeregten Grüppchens, und plötzlich waren die anderen nur noch Randfiguren.
»Im Waschraum …«
Maigret stieg ein und erblickte zu seiner Rechten die geöffnete Tür des Waschraums. Am Boden lag ein in sich zusammengesackter, merkwürdig verrenkter Körper.
Der Zugführer gab auf dem Bahnsteig seine Anweisungen: »Der Wagen wird auf ein Abstellgleis gefahren … Warten Sie … Gleis 62. Und benachrichtigen Sie den Kommissar von der Bahnpolizei.«
Zuerst sah er nur den Nacken des Mannes. Aber als er dessen schiefsitzende Mütze beiseite schob, legte er das linke Ohr frei.
»Große Ohrläppchen, Höhe der Ohrmuschel an der Innenseite normal, Gesamtgröße kleiner als normal, hervorstehender Höcker der Ohrmuschel …«, murmelte er.
Auf dem Linoleumboden waren ein paar Blutstropfen. Er schaute sich um. Die Eisenbahnbeamten standen auf dem Bahnsteig und auf dem Trittbrett. Der Bahnhofsvorsteher redete immer noch.
Da drehte Maigret den Kopf des Mannes zur Seite und klemmte seine Pfeife noch fester zwischen die Zähne.
Hätte er nicht den Reisenden im grünen Mantel zum Ausgang gehen sehen und hätte er nicht beobachtet, wie er sich in Begleitung eines Dolmetschers des Hotels Majestic zu einem Auto begab, hätten ihm Zweifel kommen können.
Dieselbe Personenbeschreibung. Der gleiche kleine, blonde, wie eine Zahnbürste geschnittene Schnurrbart unter einer scharfkantigen Nase. Die gleichen dünnen hellen Augenbrauen. Die gleichen grünlichgrauen Pupillen.
Mit anderen Worten: Pietr, der Lette!
Maigret konnte sich in diesem winzigen Waschraum nicht rühren. Jemand hatte vergessen, den Hahn zuzudrehen, so daß unentwegt Wasser ins Becken lief, und aus einer undichten Fuge zischte der Dampf.
Seine Beine berührten den Leichnam. Er richtete den Oberkörper des Toten auf, bemerkte an der Brust, auf dem Hemd und der Jacke Brandspuren, die von einem aus nächster Nähe abgegebenen Schuß stammen mußten.
Es war ein großer schwärzlicher Fleck, in den sich rotviolettes Blut mischte.
Eine Einzelheit fiel dem Kommissar auf. Zufällig warf er einen Blick auf einen der Füße. Er lag verdreht und merkwürdig verrenkt wie der ganze Körper, den man zusammengepreßt haben mußte, um die Tür wieder schließen zu können.
Der Schuh war schwarz, äußerst gewöhnlich, billig. Man konnte sehen, daß er schon einmal besohlt worden war. Der Absatz war an einer Seite abgetreten, und in der Mitte der Sohle gewahrte man ein rundes Loch, das die Abnutzung allmählich hineingegraben hatte.
Der Kommissar der Bahnpolizei erschien. Tressenbesetzt, selbstsicher, fragte er schon auf dem Bahnsteig:
»Was ist los? … Ein Verbrechen? … Selbstmord? … Nichts berühren, bis die Staatsanwaltschaft eintrifft, klar? … Vorsichtig! … Ich bin hier verantwortlich!«
Maigret hatte größte Mühe, aus dem Waschraum herauszukommen, wo er zwischen den Beinen des Toten eingeklemmt war. Mit einer schnellen geübten Bewegung tastete er die Taschen ab und vergewisserte sich, daß sie leer waren, absolut leer.
Er verließ den Eisenbahnwagen mit erloschener Pfeife, schiefsitzendem Hut und einem Blutfleck auf der Manschette.
»Sieh an, da ist ja Maigret! … Nun, was halten Sie davon?«
»Nichts! Sehen Sie selbst …«
»Selbstmord, nicht wahr?«
»Wenn Sie wollen … Haben Sie die Staatsanwaltschaft benachrichtigt?«
»Gleich, als ich es erfahren habe.«
Eine Stimme ertönte aus dem Lautsprecher. Ein paar Leute, die gemerkt hatten, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war, betrachteten von fern den leeren Zug, die unbewegliche Gruppe vor dem Trittbrett des fünften Wagens.
Maigret ließ sie alle stehen, verließ den Bahnhof, rief nach einem Taxi.
»Zum Majestic!«
Es stürmte jetzt noch stärker. Heftige Böen wirbelten durch die Straßen und ließen die Passanten wie trunkene Gestalten erscheinen. Irgendwo fiel ein Dachziegel auf den Bürgersteig. Autobusse schaukelten vorüber.
Die Champs-Elysées hatten sich in eine fast leere Rennstrecke verwandelt. Es fing an zu regnen. Der Portier des Majestic stürzte mit seinem gewaltigen roten Schirm auf das Taxi zu.
»Polizei! … Ist eben ein Reisender des Nordexpreß angekommen?«
Schlagartig schloß der Portier seinen Regenschirm.
»Ja, da ist einer angekommen.«
»Grüner Überzieher … Blonder Schnurrbart …«
»Jawohl. Erkundigen Sie sich beim Emfang.«
Die Leute rannten, um dem Platzregen zu entfliehen. Maigret erreichte gerade noch das Hotel, ehe haselnußgroße, eiskalte Tropfen fielen.
Die Angestellten und Dolmetscher hinter der Mahagonitheke blieben elegant und korrekt.
»Polizei! … Ein Reisender in grünem Überzieher … Mit kleinem blondem Schnurrbart …«
»Zimmer 17 … Sein Gepäck wird gerade hinaufgebracht.«